20 Minuten: Droht der Schweiz mit dem neuen EU-Vertragswerk ein Ärzte-Chaos?
Eine Bestimmung darüber, welche Ärzte mit Krankenkassen abrechnen dürfen, könnte gegen die Personenfreizügigkeit verstossen. SVP-Nationalrat Mike Egger befürchtet, dass der Artikel gekippt werden könnte – und die Krankenkassenprämien explodieren.
Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) will neben der Sicherstellung der medizinischen Versorgung auch den Kostenanstieg im Gesundheitswesen bremsen: Artikel 37 verlangt, dass Leistungserbringer in ihrem Fachgebiet drei Jahre Arbeitserfahrung «an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte» vorweisen und ihre Sprachkompetenzen per Prüfung belegen. Die Kantone können dabei Ausnahmen machen, wenn eine Unterversorgung besteht.
Damit soll die Bestimmung Überversorgung in lukrativen Regionen und ertragreichen Fachgebieten verhindern sowie Unterversorgung in Randregionen und weniger rentablen Bereichen ausgleichen.
SVP-Egger warnt vor Ärzte-Chaos wegen EU-Vertragswerk
Gemäss SVP-Nationalrat Mike Egger könnte diese Bestimmung aber gegen die Personenfreizügigkeit verstossen. Im neuen Vertragswerk könne sie deshalb vom Europäischen Gerichtshof gekippt werden. «Die EU-Richtlinie 2018/958 könnte dazu führen, dass Vorgaben wie Sprachprüfungen und insbesondere Weiterbildungspflichten von der EU als unverhältnismässige Marktzugangshindernisse eingestuft werden», so Egger.
Egger ist überzeugt: «Würde dieser Artikel aufgehoben oder eingeschränkt, könnten Ärztinnen und Ärzte aus der EU ohne Sprachprüfung und ohne die vorgeschriebene dreijährige Praxiserfahrung im Inland direkt tätig werden und mit den Krankenkassen abrechnen. Das ist brandgefährlich – die Patientensicherheit wäre bedroht und die Krankenkassenprämien würden explodieren.» Deshalb möchte der St. Galler vom Bundesrat wissen, welche Auswirkungen eine Anpassung auf die Patientensicherheit und die Prämienlast hätte.
Europarechtlerin bestätigt Konflikt, aber …
Europarechts-Professorin Astrid Epiney bestätigt den möglichen Konflikt zwischen KVG und Personenfreizügigkeit. «Artikel 37 hat einen diskriminierenden Charakter – er betrifft in erster Linie Ausländer. Das Freizügigkeitsabkommen verbietet solche Bestimmungen grundsätzlich», sagt sie.
Gleichzeitig betont Epiney, dass die Schweiz Ausnahmen geltend machen könne, wenn hinreichende Rechtfertigungsgründe vorliegen. «Wenigstens die Sprachkenntnisse sollten mit dem Allgemeininteresse der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt und damit geschützt sein», erklärt die Expertin. Auch die dreijährige Praxiserfahrung könne gerechtfertigt werden, ergänzt Epiney: «Wer aus dem Ausland kommt, hat vom Schweizer Gesundheitswesen erst mal keine Ahnung – es ergibt durchaus Sinn, dass man diesen Fachpersonen in einem Spital zunächst etwas Praxiserfahrung vermittelt.»
Verhältnismässigkeit als Stein des Anstosses
Primär dürfe die Verhältnismässigkeit zu reden geben – namentlich die Länge der geforderten Praxiserfahrung. «Am Ende könnte die Schweiz im üblichen Verfahren der Streitbeilegung ihre Interessen wohl geltend machen», erklärt Epiney. Hier bleibt zu erwähnen, dass dieses vorsieht, dass Weisungen des Europäischen Gerichtshofs bei der Auslegung von EU-Recht im Streitfall bindend sind.
Darüber hinaus verweist Epiney aber auf die Tatsache, dass dieser Konflikt bereits seit Jahren bestehe – ohne jemals zu einem Rechtsstreit geführt zu haben. «Ich bezweifle, dass die EU das Fass aufmachen würde. Auch dürfte sie aufgrund ihres jedenfalls in einigen Mitgliedstaaten bestehenden Ärztemangels kein grosses Interesse daran haben, dass der Artikel aufgehoben wird, weil er EU-Ärzten die selbstständige Niederlassung in der Schweiz erschwert.»